Bernward Reul

„Zu allen Zeiten war es so, dass die Architektur ein Spiegelbild der Gesellschaftsordnung darstellte.” Gustav Heinemann, 1974

19.03.2019
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul
Das ehemalige Oberstufenzentrum in der Swinemünder Straße 80, Foto: Bernward Reul

Unterwegs im Brunnenviertel mit Bernward Reul

Das Gebiet nächst der Brunnenstraße, heute Brunnenviertel genannt, war eines von mehreren geschlossenen Bereichen in innerstädtischen Bezirken, welche mit dem 1. Stadterneuerungsprogramm bedacht wurden, das Willy Brandt – gerade zum dritten Mal zum Regierenden Bürgermeister West-Berlins gewählt – am 18. März 1963 in seiner Regierungserklärung vor dem Berliner Abgeordnetenhaus verkündet hatte. Dieses 1. Stadterneuerungsprogramm betraf 140.000 Einwohner*innen in 56.000 Wohnungen, wovon die meisten der in den Jahren 1850-1920 gebauten Wohnungseinheiten nun als „verbesserungsfähig oder abbruchreif“ eingeschätzt wurden. Zwischen 15.500 und 17.000 Wohnungen befanden sich in dem südlich von Gesundbrunnen liegenden, von drei Seiten von Ost-Berlin umschlossenen, und von der West-City abgeschiedenen Bereich, zwischen dem östlich liegenden Bahngelände hinter der Wolliner- und der Graunstraße, dem heutigen Mauerpark, der südlich liegenden Bernauer Straße und der westlich liegenden Gartenstraße.

Faktisch geriet das Brunnenviertel mit dem Mauerbau 1961 in Randlage, wie Stadtplaner Heinrich Suhr im September 2018 berichtet: „Mancher Westberliner wusste gar nicht, wie es zu erreichen war“. Das brachte auch Vorteile mit sich. „Damals wussten alle: im Wedding kann man still und leise sanieren, da gibt es keine Proteste“.

Anfangs hieß Sanierung in der Regel: Abriss und Neubau. Fotos und Filme aus der Phase der „Bereitstellung der sanierungsbedürftigen und nach dem Bebauungsplan für die Neuordnung benötigten Grundstücke“ belegen den wenig zimperlichen Umgang mit der einfach als „überaltert“ erklärten gründerzeitlichen Bausubstanz. „Was in Wedding zur Erneuerung ansteht, ist nicht nur die Bausubstanz des späten 19. Jahrhunderts, die die industrielle Unterschicht beherbergte, sondern es sind auch die sozialen Restbestände einer Gesellschaft von gestern“, welche laut Gutachten von Dr. Zapf (1966) in Wedding im soziologischen Sinn in Rückstand geraten seien: „Bewohner und Benutzer habe dort weniger als in anderen Zonen der Stadt die Möglichkeit, so zu leben und zu arbeiten, wie es den gesellschaftlichen Gegebenheiten und dem gültigen sozialen Anspruchsniveau entspricht. Das freie Gelände, das in Wedding durch Abbruch der Mietskasernen gewonnen wird, bietet mehr als nur Gelegenheit zu geplanten Veränderungen der Stadtstruktur“ (in: StadtBauwelt 18, 1968).

„Auch die Flächensanierung der sechziger Jahre, des 1. Stadterneuerungsprogramms, hat das Anrecht, aus der geschichtlichen Situation heraus begriffen zu werden“, meint Stadtplaner Suhr, der das Etikett „Kahlschlagsanierung“ ungerecht findet und zum Beispiel auf seinen Kollegen Gerhard Fehl verweist, damals ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin. Fehl hatte zur Vorbereitung des Erneuerungsprogramms „Eine Stadtbild-Untersuchung“ vorgenommen, die er im Juni 1964 vorstellte.

„Tabula rasa, heimischer Traum bei der Stadterneuerung, schied in Wedding (SWB) als gangbarer Weg aus. Spätestens bei der Planungsvorbereitung hatte man erkannt, daß nur mit kleinen Schritten und behutsam zum Ziele zu gelangen war“, so leitete Gerhard Fehl (in: StadtBauwelt 18, 1968) seine Untersuchung von 1964 ein, in dessen Zusammenhang er einen Plan entwickelte, welcher „die Kontinuität des Stadtbildes sicherstellen“ wollte.

Angeregt durch Kevin Lynchs Buch „Das Bild der Stadt“ (Harvard University Press, 1960/ Ullstein Bauwelt Fundamente, 1965), beschäftigt sich der damals Dreißigjährige „im Hinblick auf die Zielsetzung: system-konsequenter Weiterführung der Qualität“ mit Ordnungs- und Differenzierungs-Elementen im SWB, dem Sanierungsgebiet Wedding-Brunnenstraße.

„Ordnungs-Elemente bedürfen zu ihrer Erfaßbarkeit spezifischer Definitions-Elemente: Trennlinien, Fronten, Kanten, Ecken im baulichen, räumlichen oder funktionalem Sinn grenzen homogene Bereiche gegeneinander ab. Wo diese Elemente schwach oder uneinheitlich sind oder gar fehlen, werden die Ordnungs-Elemente verschleiert; es wird schwierig eine Ordnung zu erkennen.“
„Jeder Gegenstand ist bei genügend genauer Betrachtung beliebig in sich differenzierbar; Differenzierungs-Elemente unterteilen die ,groben’ Dimensionen der Ordnungs- und Definitions-Elemente in leichter faßbare Unterordnungen verschiedener Maßstab-Stufen. Durch wechselnde Kombination der in einem System möglichen Differenzierungs-Elemente läßt sich jeder Gegenstand der Betrachtung von jedem anderen unterscheiden. Beim Vorhandensein einer mehreren Gegenständen gemeinsamen Anzahl von Differenzierungs-Elementen kann eine durchgehende, für ein Gebiet kennzeichnende ,typische’ Sekundär-Ordnung festgestellt werden.“

Auf das Sanierungsgebiet Wedding-Brunnenstraße angewandt führte diese Betrachtungsweise zu einem aus der ursprünglichen Bebauung gewonnenen Katalog von Idealtypen von Definitions- und Differenzierungs-Elementen, die dann wiederum einen Katalog derjenigen Elemente bildeten, „die als Auflagen übernommen werden müssen, will man die Stadtbildqualität weiterführen“. Dieser wurde den Architekten durch die Planer für die Bereiche, in denen für den Neubau Auflagen galten, zur Berücksichtigung anempfohlen.

Als „Auflagen im Falle der Neubebauung“ benannte Gerhard Fehl die Beibehaltungen von Fluchtlinie, Blockecken, Traufhöhe, Beibehaltung der geschlossenen Raumwand – ohne Einhaltung der Fluchtlinie. Die Auflagen betrafen auch Dachgesims und Sockel, Erker bzw. Balkon, die horizontale Fassadenstruktur, die bauliche Erdgeschoßdifferenzierung, Straßenbäume und Gehweg entlang der Fassade. Die „Erhaltung von Fassaden bzw. Fassadengruppen“ war kategorisiert in „unbedingt“ und „nur im Zusammenhang“.

„Dieses Ergebnis ging in das Programm der Erneuerung ein.“ (Gerhard Fehl)

Ob das Ergebnis in der Umsetzung dann tatsächlich berücksichtigt wurde? „Eine hohe Stufe der Qualität eines Stadtbildes ergibt sich dann, wenn auch nach langem Kennen und bei hoher Vertrautheit mit einem Ort noch ständig Neues erlebt werden kann, sei es durch den Grad der Differenziertheit des Ordnungs-Systems, sei es durch die im System vorgesehene Differenzierung. Hierzu kann der Planer grundlegend beitragen, indem er die Konsequenz eines Systems beachtet.“

Einige Nachkriegsbauten, die auf den ehemaligen Trümmergrundstücken errichtet worden waren, konnten in das Sanierungskonzept schlecht eingebunden werden und lassen vielleicht städtebauliche Stringenz vermissen. Die Fassadengestaltung des letzten zusammenhängenden Altbaubereichs im Sanierungsgebiet, Graunstraße 33-36, Lortzing-, Gleimstraße versucht hingegen durch eine kräftige Farbpalette die Elemente zu verbinden und zu differenzieren, wobei die Details deutlich herausgestellt werden.

Die Vorstellung, dass sich das weggerissene alte Wedding in abstrahierter Form in den Neubauten des Sanierungsgebietes erhalten haben könnte, kann man gerne als Anregung verstehen, den heute bestehenden Kiez etwas bewusster wahrzunehmen und sich zum Beispiel daran erfreuen, dass Josef Paul Kleihues mit dem großen Durchgang am Vinetaplatz in seiner Blockrandbebauung (1971-76) nebenbei eine Sichtachse auf die unter Denkmalschutz stehende Kirche Hl. Sava in der Ruppiner Straße geschaffen hat. Wer mit abwertendem Blick durch das heutige Brunnenviertel geht, sieht allerdings nichts.

Der kleine Ausflug in das ehemalige Sanierungsgebiet endet, wo er hatte beginnen wollen: auf einem ca. 18.200 m² großen Grundstück, das bei Beginn der Sanierungsmaßnahmen unbebaut geblieben war und von schwierig einzubindenden Nachkriegsbauten flankiert wurde. Bei dem markanten, orangefarbenen Gebäudekomplex, der im Herzen des ehemaligen Sanierungsgebietes steht, handelt es sich um das ehemalige Oberstufen-Schulzentrum, das die Architekten Pysall, Jensen und Stahrenberg nach einem Architektenwettbewerb im Jahr 1971 geplant hatten und welches nun vom Abriss bedroht ist.

In einem, dem Baukörper der Schule vorgestellten Modul, das als Bibliothek geplant worden war, war von 1978 bis 2011 die Hugo-Heimann-Bibliothek untergebracht; eine große steinerne Ehrentafel in der leider nicht mehr zugänglichen Eingangshalle erinnert an den Begründer „der am 26 X 1899 eröffneten, im 2. Weltkrieg zerstörten, öffentlichen Bibliothek und Lesehalle zu unentgeltlicher Benutzung für jedermann, des Ehrenbürgers von Gross-Berlin, Hugo Heimann“. Hinter der geriffelten Betonmauer auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Musikbereich und die Aula der Schule, die auch für öffentliche Konzerte und Theateraufführungen gedacht war und multifunktional angelegt wurde.

Das Raumprogramm in der dreigeschossigen, nach ihrer unterschiedlichen Nutzung horizontal gegliederten Anlage, war mit seinen verschiebbaren Wänden von den in der sozial-liberalen Ära verhandelten Ideen bestimmt, die sich bildungspolitisch vor allem in der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates vom Februar 1970 zur Neuordnung der Struktur des Bildungswesens niederschlugen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik ernst nehmend [z.B. Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art.2 GG), das Recht auf freie Berufswahl (Art. 12 GG)], sollte das Bildungswesen in der Bundesrepublik unter das Kriterium der Förderung und nicht mehr unter das der Auslese gestellt werden. In der Sekundarstufe I sollten die Zehn- bis Sechzehnjährigen nach zehnjähriger Schulzeit ein Abitur I als qualifizierten Abschluss erhalten. In der Sekundarstufe II sollten die Angebote dann weiter aufgefächert werden, so dass der einzelne Schüler seine Begabung entfalten könne. Durch das Abitur II (Hochschulqualifikation) oder aber durch unterschiedliche berufsqualifizierende Abschlüsse sollte diese Oberstufe abgeschlossen werden. Eine Öffnung der Schule in die Berufs-, Wissenschafts- und Kulturwelt sollte durch Kooperationen mit unterschiedlichen Einrichtungen gewährleistet werden.

Nach Ende der Bauzeit (1974-1976) zog statt der großen Utopie ein bodenständiges Gymnasium, erst das Ranke-Gymnasium, dann das Diesterweg-Gymnasium in das Oberstufenzentrum ein.
Seit 2011 steht das ehemalige Oberstufenzentrum leer, ein Denkmal ohne Eintrag in die Denkmalliste. Längst gibt es ein bürgernahes Konzept, das dem vernachlässigten Gebäude Beachtung schenkt und selbst etwas mehr Beachtung verdiente. In den vorhandenen Strukturen des ehemaligen Sanierungsgebietes stellt das ehemalige Oberstufenzentrum ein besonderes Merkzeichen dar, das auf den heutigen Kiez auch von seiner städtebaulichen Anlage her identitätsstiftend wirken kann.

Weiterführendes:

Bilder: https://www.bauwelt.de/themen/bilder/OSZ-Wedding-2333015.html
Bilder: http://www.formfreu.de/2014/02/09/diesterweg-gymnasium
bauwelt 35.1978: https://www.bauwelt.de/Schulbauten-in-der-Erprobung-2330469.html
Wohnen im Versuchsprojekt: https://www.bauwelt.de/themen/betrifft/Wohnen-im-Versuchsobjekt-Oberstufenzentrum-Wedding-Pysall-Jensen-Stahrenberg-Modellprojekt-2330926.html
ps wedding: https://pswedding.de/
annoerzählt: https://annoerzaehlt.com/
weddingweiser: https://weddingweiser.de/tag/diesterweg-gymnasium/
Quartiersmanagement: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/quartiersmanagement/de/brunnen/index.shtml

Mit bestem Dank für die Unterstützung.

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