Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Dreifacher Auftakt der Berlin Biennale

25.02.2020
Berlin Biennale Auftakt in den Räumen von ExRotaprint ©Mathias Voelzke

Seit September 2019 gastiert die Berlin Biennale im ExRotaprint im Wedding. Anna-Lena Wenzel hat sich die drei Auftaktausstellungen angeschaut.

Samstag, 9.11.2019 // exp. 1

Es ist kurz nach vier als ich den Eingang zur Berlin Biennale finde. Schon von weitem hatte ich den charaktervollen Betonbau gesehen, dessen Rohheit heutiger Mode entspricht, dabei handelt es sich um ein Denkmal geschütztes Gebäude aus den 1960er Jahren! Weil ich mir als Veranstaltungsort nur ExRotaprint gemerkt hatte, war ich zunächst auf den Innenhof des Geländes gelaufen, doch der Eingang zur Ausstellung ist in der Bornemannstraße. Dort angekommen, durchquere ich den ersten Ausstellungsteil, der vom Berliner Kollektiv Die Remise bespielt wird, und gehe direkt in den hinteren Raum. Hier befindet sich die Ausstellung exp. 1: Das Gerippe der Welt, die Auftaktausstellung der Berlin Biennale. Für den heutigen Tag ist ein Filmscreening angekündigt, weshalb in der Mitte des Raum zahlreiche Matten ausgelegt sind, auf denen Kinder spielen oder aus kleinen Tüten Popcorn naschen. Zu Beginn stellen sich die vier Kurator*innen der 11. Berlin Biennale kurz vor und führen in die Veranstaltung ein. Gezeigt wird der Animationsfilms Im Urwald gibt es viel zu tun der Grupo Experimental de Cine von 1974 – in drei Versionen: in der spanischen Originalversion und mit deutschem und englischem Live-Voiceover.

„Eine Eule, ein Elefant, eine Schildkröte, ein Fisch, ein Seehund, ein Tiger, ein Vogel und eine Schnecke sitzen am Feuer und besprechen, was zu tun ist, um den Urwald, in dem sie leben, für alle besser zu machen. Eines Tages findet ein Jäger den Ort, an dem sie sich versammeln, und verschleppt sie in den Zoo. Dies ist die Geschichte der eingefangenen Tiere, die zusammen mit einem kleinen Mädchen, geheimen Kollaborateur*innen und in Freiheit lebenden Freund*innen wieder nach Hause finden, um bei ihren Kindern zu sein und zu tun, was es im Urwald zu tun gibt.“ So lautet die Zusammenfassung des Filmes in der Ankündigung. María Berríos, Teil des vier-köpfigen Kurator*innenteam, ergänzt die Entstehungsgeschichte des Filmes: Der Urheber der Geschichte, Mauricio Gatti, ist Anfang der 1970er Jahre in einem Gefangenenlager des Militärs in Montevideo, Uruguay, inhaftiert. Seiner Tochter Paula sendet er Briefe in Form von Zeichnungen. Bei seiner Freilassung 1972 werden diese in dem Kinderbuch En la selva hay mucho por hacer veröffentlicht. Die Zeichnungen waren seine Art, mit einer Dreijährigen über politische Gefangenschaft zu sprechen, in einer Sprache, die ihre sein könnte. 1974 adaptierten Alfredo Echaniz, Gabriel Peluffo und Walter Tournier das Buch für ihren Animationsfilm, der jedoch nur zweimal vorgeführt werden konnte und erst Jahre später im Exil wieder auftauchte. Das Buch wurde für die Berlin Biennale neu aufgelegt und ist damit die erste Publikation, die im Rahmen der Berlin Biennale erscheint.

Es ist der letzte Tag der Auftaktausstellung und ich nutze die Gelegenheit sie mir nach der Filmvorführung genauer anzuschauen. Zu sehen sind eher kleinteilige Arbeiten, Zeichnungen, dokumentarische Fotografien und Magazine: Neben einer Kinderzeichnung hängt ein sehr persönlicher Text der Mutter, in dem sie von der Krankheit ihres Mannes erzählt – und von der Unterstützung, die sie bekommt. Ein Foto zeigt den brasilianischen Künstler Flávio de Carvalho (1899–1973), eine für die vier Kurator*innen zentrale Gestalt, die für das Konzept der Ausstellung wichtige Impulse und den Titel geliefert hat, denn Os Ossos do Mundo [Das Gerippe der Welt] ist der Name eines Reiseberichts, den Carvalho während seiner Zeit in Europa Mitte der 1930er Jahre verfasste. Er gibt die Umkehr des kolonialistischen Blickes der Europäer*innen auf Lateinamerika vor, der nun durch die Kurator*innen, die alle aus Lateinamerika kommen, aktualisiert wird. Die Kurator*innen wollen von „Künstler*innen und Projekten in Berlin lernen“ und „nachhaltige Beziehungen in der Stadt Berlin aufbauen“, wie es in der Ankündigung heißt. Seit September 2019 haben sie in den Räumen von ExRotaprint Station bezogen und sind in die Stadt ausgeschweift. „Die Ausstellung ist ein Setting, eine Übung, sich einander auszusetzen; ein Ort, um den Geschichten zu lauschen, die uns formen, die wir einander erzählt haben und denen, die noch nicht erzählt wurden. Sie ist ein offener Raum für die vielfältigen Erfahrungen, die wir mit uns bringen, aber auch für diejenigen, die in diesem Moment außerhalb unserer Komfortzonen gemacht werden.“ Zu den Erfahrungen, von denen hier die Rede ist, gehören eben jene drei Experiências, die zwischen September 2019 und Mai 2020 in den Räumlichkeiten stattfinden.

Flávio de Carvalho, Sao Paulo 1956

Freitag, 29. November 2019 // exp. 2

Es ist fast sechs als ich zum Auftakt der zweiten Ausstellung oder genauer Experiência komme. Ich komme gerade noch rechtzeitig, da sie schon um 19 Uhr schließt – zu der Zeit, zu der normalerweise Ausstellungen eröffnen. Doch hier hat man bereits um 14 Uhr angefangen – zu elternfreundlichen Zeiten.

Wie beim Auftakt besteht auch dieses Mal die Ausstellung aus zwei Teilen: im vorderen Teil präsentiert die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe aus Berlin, bestehend aus Inga Zimprich und Julia Bonn, ihr Archiv Practices of Radical Health Care, während im großen Raum eine Videoarbeit von Virginia de Medeiros gezeigt wird. Auch hier wird wieder eine lokale mit einer internationalen Position verknüpft, ein Archiv trifft auf eine künstlerische Position. War es bei „Die Remise“ das Archiv der Nürtingen-Grundschule in Berlin-Kreuzberg und ihr umgebendes räumlich-soziales Gefüge, beschäftigt sich die Recherchegruppe mit der Westberliner Gesundheitsbewegung der 1970er- und 1980er-Jahren und verknüpft sie mit aktuellen feministischen und gesundheitspolitischen Bewegungen.

Setting für die Veranstaltung der Sickness Affinity Group, Foto: Anna-Lena Wenzel

Für Virginia de Medeiros, die in Brasilien lebt, ist der Auftakt der Ausstellung zugleich der Beginn ihres dreimonatigen Stipendiums in Berlin. Die Idee ist, dass ihre Recherchen vor Ort auch in der Ausstellung sichtbar werden. Als ich am letzten Ausstellungstag vorbeikomme, hat sich tatsächlich etwas verändert: zwei Wände sind blau angestrichen und das Deckenlicht wurde mit blauer Folie abgedeckt, in der nun blauen Ecke stehen mehrere Topfpflanzen auf dem Boden. Ein Tisch mit Büchern ist verschwunden und einer Fußbodenzeichnung und mehreren Bastmatten gewichen. Die zwei Bilder, die noch von der exp. 1 an der Wand hingen, sind durch zwei weitere ergänzt worden: eine Xylographie, die in einem Schülerworkshop entstanden ist und eine Schildkröte zeigt, und ein Foto, das in der einzigen Kirche aufgenommen wurde, in der Candomblé in Deutschland praktiziert wird (eine Fortsetzung des Themas des Films, der das Kernstück ihrer Ausstellung darstellt, und bei dem eine christlich-spirituelle Candomblé-artige Séance in einem Bahnwaggon gefilmt wird). In ihren „Fragments of the artist’s diary”, die die Künstlerin auf Instagram veröffentlicht, schreibt sie über ihren Besuch: „On that night, the Iabassê, who is responsible for the preparation of sacred foods in the Candomblé, showed me the assentamentos (specific location devoted to each orisha): stones from the Orixás.”

Für die Ausstellung im Sommer wird Virginia de Medeiros einen Film aus ihren Impressionen in Berlin zusammenschneiden, während die feministische Recherchegruppe ein weiteres Zine zusammenstellen wird. Sie haben am letzten Tag zu einem Orakel eingeladen, einem partizipativen Format der Sickness Affinity Group betitelt mit: Das erschöpfte mitfühlende Orakel: Q&A. Dafür haben sie einen runden, lila Teppich auf dem Boden ausgebreitet, Stühle, Wärmfalschen und Nüsse bereitgestellt. Das Stichwort „Care“ spielt hier eine wichtige Rolle und ist auch für die Kurator*innen zentral, die versuchen einen Rahmen zu schaffen, der Begegnung und Heilung ermöglicht.

Dazu passen die beiden Protagonisten, die zur exp. 3: Archive berühren. eingeladen wurden:

Freitag, 21. Februar 2020 // exp. 3

Das Konzept der vorherigen Experiências, bei der eine recherchebasierte Position im vorderen Raum gezeigt wird und eine künstlerischere im hinteren, gilt auch für die dritte Auftaktausstellung. Sinthujan Varatharajah hat einen Tisch aufgestellt, auf der eine Karte von Berlin gemalt ist, in der verschiedene Punkte markiert sind, wie der Flughafen Schönefeld, die S-Bahnstationen Friedrichstraße und Zoologische Garten. Es handelt sich um Orte, die tamilische Geflüchtete in den Jahren 1982-1986 passierten, nachdem sie vor den antitamilischen Pogrome und Unruhen in Sri Lanka geflüchtet waren. Ein roter Reisekoffer lehnt an der Wand, darüber ist ein schwarz-weiß Foto angebracht, auf dem tamilische Geflüchtete in einem Asyllager Tischtennis spielen. Texte auf Tamil, Deutsch und Englisch zu den einzelnen Orten skizieren die Umstände der Flucht. Zusätzlich gibt es Hörstationen mit Zeitzeugen, Filmausschnitte des rbb und des Bayrischen Rundfunks geben einen Eindruck der damaligen Situation. Sinthujan Varatharajahs Familie ist selber aus Sri Lanka vor dem Bürgerkrieg geflohen; 1985 kommt er in einem Asylbewerberheim in Bayern zur Welt, hat später Geographie studiert und bezeichnet sich heute als Forscher und Essayist.

Der hintere Raum wird von zarten, bis zur Decke reichenden Skulpturen aus Kupfer dominiert, die von Löffeln bevölkert werden. Plexiglaselemente in blau und orange sind ihnen zur Seite gestellt, Salz auf dem Boden um sie herum ausgebreitet. Einige der angelaufenen und korrosierten Löffel sind auch an den Wänden angebracht, ergänzt werden sie durch zwei Fotografien aus dem argentinischen Nationalarchiv auf denen nackte Menschen zu sehen sind. Sie sind so angebracht, dass man die Kommentare auf ihren Rückseiten lesen kann: „Im Hospicio do las Mercedes (Buenos Aires, Argentinien)“, heißt es dort. Ein nackter Mann wird dort von zwei Pflegern abgeführt. Auf dem anderen steht „Körpercamping“.

Installation von Osías Yanov, Foto: Anna-Lena Wenzel

Der Künstler Osías Yanov hat diesen Faksimiles sprechende Titel gegeben, die etwas über seine Haltung und sein Interesse verraten: „Körper, die sich für die Souveränität des Begehrens verschwören“ und „Der Körper ist souverän in seinem Begehren.“ In einem Film, der auf einen faltenwerfenden Vorhang projiziert wird, sieht man die heutigen Äquivalente dazu: ein nackter Mann, der von einem anderen mit Öl eingerieben wird und dem ein Löffel aus dem Po ragt, eine Gruppe von Menschen unter einem Tuch, unter dem sie sich als Gruppe bewegen und an Körpercamping erinnern. Die Themen Begehren, Verletzlichkeit, Transformation, Widerständigkeit sind es, die den Künstler umtreiben und die ihn mit Flávio de Carvalho verbinden, von dem ebenfalls eine Fotografie im Ausstellungsraum hängt. Darauf läuft er in einem luftigen, queeren Dress umgeben von anderen Menschen eine Straße entlang und bewegt sich dabei angeblich gegen den Strom einer religiösen Prozession.

Die Experiências bieten einen Vorgeschmack auf das Kommende und deuten das kuratorische Selbstverständnis des Vierer-Teams an, das vornehmlich in Südamerika lebt und arbeitet, unterschiedlichen Alters ist und sich als weiblich identifiziert. María Berríos, Renata Cervetto, Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubio denken ihre Aufgabe ganzheitlich: es geht nicht nur um die Auswahl künstlerischer Arbeiten, die sich queer und postkolonial positionieren, sondern auch um ein Arbeiten an einer die gängigen Sichtbarkeits- und Sagbarkeitsregime querenden Form. Darauf deutet schon die Sprache hin, die Theorieungeheuer vermeidet und dennoch eine klare politisch Haltung erkennen lässt, und auf klassische Kunstbegriffe wie Vernissage oder Finissage verzichtet. Dazu gehören Veranstaltungen, die sich an Eltern und Kinder richten ebenso wie die ungewohnten Öffnungszeiten und ein prozesshaftes kuratorisches Selbstverständnis und die Auswahl von Themen wie Ruinen und Solidarität, Körper und Heilung.

Der Epilog, der am 12. Juni 2020 beginnen wird, wird ebenfalls in den Räumlichkeiten des ExRotaprint-Geländes stattfinden – und zusätzlich im Martin-Gropius Bau, den KW – Institute for Contemporary Art und der daadgalerie in Kreuzberg. Man darf gespannt sein, was für Verbindungen in und durch die Stadt die Kurator*innen bis dahin gesponnen haben und welche weiteren Themen und Akteur*innen sie aktiviert haben werden, um sie mit den Besucher*innen zu teilen.

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