Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Historische Spurensuche: Ein Stadtrundgang zur Novemberrevolution entlang der Chausseestraße

03.03.2020
Die Tour beginnt mit einem Blick auf einen historischen Stadtplan, Fotos: Anna-Lena Wenzel


Wir treffen uns an der Chausseestraße, Ecke Ida-von-Arnim Straße in unmittelbarer Nähe zum neuen Bundesnachrichtengebäude, das sogenannte BND Gebäude. Doch bevor wir mit der Führung beginnen, schickt uns Stefan Zollhauser 40 Meter weiter – zum ehemaligen Exerzierplatz, der heute eine Brache ist. Dort bilden wir einen Kreis und er beginnt seinen Stadtrundgang: „Ich möchte mit euch eine Tour zur Novemberrevolution machen, das heißt wir werden uns viel mit dem November, Dezember, Januar beschäftigen, mit den Fragen, die damals aktuell waren und den Aktionen, den Bewegungen und auch der Gewalt, die damals eine Rolle spielte. Damals zwang die kriegsmüde Bevölkerung den Kaiser zur Flucht und kämpfte um politische Mitsprache. Dem Beginn der Revolution im November 1918 folgte eine teils blutige Auseinandersetzung um eine neue Staatsform, die Deutschland schließlich erstmals zu einer demokratischen Republik machte. Ich möchte mit euch aber auch diskutieren, wie man heute damit umgeht – was man erinnert und was man nicht so gerne erinnert, oder vergisst oder absichtlich vergessen gemacht hat. Zu all dem seid ihr herzlich eingeladen eure eigenen Ideen, Fragen, Perspektiven einzubringen. Ich möchte mit euch anhand unterschiedlichster Orte thematisieren, was so die großen Fragen der damaligen Zeit waren.“

Bevor er fortfährt, fragt er die Runde, wer von den Teilnehmer*innen letztes Jahr einer der Revolutionsausstellungen besucht hat. Eine Frau meldet sich und berichtet, dass sie im Podewil war, eine andere erzählt, dass sie eine Fotoausstellung im Newton-Museum gesehen hat. Zollhauser gelingt es mit diesen Fragen immer wieder die Runde zu öffnen und die Teilnehmer*innen mit einzubeziehen, wenn er sie nach ihrem Wissen und ihren Meinungen befragt.

Doch zunächst holt er einen alten Stadtplan von Berlin heraus und faltet ihn auf. „Der ist 1894, also etwas über 20 Jahre vor der Revolution erschienen.“ Wir suchen unseren Standort. „Ihr seht hier den Platz der Artillerie-Garde-Füselier-Kaserne, das ist ein großes Kasernengelände mit einem Exerzierplatz, wo heute das BND-Gebäude steht. Vieles von dem, was wir heute als Berlin kennen, war damals noch nicht gebaut, aber es gibt einige Fabriken wie die große AEG-Fabrik, die in dieser Zeit entstanden ist. Von hier kommen zahlreiche Arbeiter und laufen zur Kaserne am 9.11.1918. Andere zentrale Orte der Revolution sind der Reichstag und das Schloss und weitere Kasernen, wie die in der Nähe des ehemaligen Zellengefängnisses beim heutigen Hauptbahnhof.“ 

Wir gehen ein paar Meter weiter und bleiben erneut stehen. „Die Altbauten, die sich hier verstecken, bilden das Bundeswehrkrankenhaus. Es ist ursprünglich als Garnisons-Lazarett Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut worden und war dann in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus das Polizeikrankenhaus. Im Rahmen der Novemberrevolution wurden hier etliche Verletzte hingebracht, wobei es leider kaum Unterlagen darüber gibt. Aber jetzt lasst uns gemeinsam um die Ecke gehen.“

Wir gehen die Scharnhorststraße entlang und biegen dann links ab, vorbei an familienfreundlichen Townhouses und bleiben an der Rückseite des BND Gebäudes mit Blick auf die teilweise renaturierte Panke, und auf eine Palmenskulptur. Hier holt Stefan Zollhauser aus: „Gegen Ende des Krieges sollen die Marinesoldaten an der Küste zu einer letzten großen Schlacht ausrücken. Aber viele Soldaten möchten nicht in letzter Minute sterben und beginnen eine Meuterei. Von dieser Meuterei ausgehend, breitet sich die Revolution über das ganze deutsche Reich aus. Ungewöhnlich aus heutiger Perspektive ist, dass in München eher Revolution ist, als in Berlin: dort muss der Bayerische König schon zwei Tage vor dem deutschen Kaiser, dem Preußischen König abdanken.“

Um den Stadtrundgang etwas anschaulicher zu machen, hat Stefan Zollhauser diverse historische Dokumente dabei und zieht immer wieder eines aus seiner Tasche. „Hier ist ein Feldpostbrief von Käthe Kollwitz an ihren Sohn, auf dem lapidar vermerkt ist: Zurück, tot. Im Krieg gab es ca. 2 Millionen Tote, das hat zu einer Ernüchterung in beträchtlichen Teilen der Arbeiterschaft geführt. Hinzu kam eine immense Hungersnot. Ich habe euch eine Magermilchlebensmittelmarke mitgebracht, die dafür sorgen sollte, dass die wenigen Lebensmittel gerecht verteilt werden.“ Er lässt die Karte reihum gehen.                                       

Die nächste Station ist nur ein kurzer Zwischenstopp: an der Habersaathstraße weist uns Stefan Zollauser auf das kleine Infoschild hin, das oberhalb des Straßenschildes befestigt ist und auf dem steht: „Erich Habersaath, Werkzeugmacher. Führer der Berliner Arbeiterjugend, erstes Opfer der Novemberrevolution 1918, gestorben am 9.11.1918.“ Habersaath ist direkt hier ums Leben gekommen, 1951 wurde die Straße nach ihm benannt.

Wir gehen die Chausseestraße runter in Richtung Alt-Mitte bis wir zur Nummer 121 kommen. Dort steht ein Neubau, an dessen Eingangstor ein einziges Klingelschild mit dem Namen „Denkmal“ befestigt ist. Drückt man den Knopf, geht die Tür auf und man kann geradeaus durch auf ein Denkmal zugehen, das an die Gründung des Spartakusbund erinnert. Auf der Rückseite steht: „Hier stand das Haus, in dem unter Vorsitz von Karl Liebknecht am 1. Januar 1916 der Spartakusbund – Keimzelle der kommunistischen Partei Deutschlands – gegründet wurde.“ Vorne befindet sich unter dem Schriftzug Spartakus ein Zitat von Karl Liebknecht: „Das heißt Feuer und Geist, das heißt Seele und Herz, das heißt Wille und Tat der Revolution des Proletariats.“  

Die letzte Station ist die ehemalige Leichenhalle in der Hannoverschen Straße. Dort wurden zur Zeit der Revolution zu Identitätszwecken und zum Abschiednehmen die Toten aufgebahrt. Heute ist hier ein Exzellenzcluster untergebracht, weshalb wir nicht hinein können, sondern allesamt versuchen einen Blick über die Mauer zu werfen. Aber auch hier helfen die historischen Dokumente weiter. Stefan Zollhauser hält ein Foto von Karl Liebknecht hoch, der im Januar 1919 ermordet und dann hier aufgebahrt wurde. Auf dem Foto sind lange Schlangen vor dem Eingang zu erkennen.

Am Ende der Tour frage ich Stefan Zollhauser, wie er eigentlich auf Ideen zu Stadtrundgängen kommt. „Das sei unterschiedlich“, sagt er, „manchmal ist es ein Ort, wie die Wiesenburg oder die Leichenschauhalle, dann wieder ein Thema, wie die Umweltbewegung, das mich umtreibt.“ Bei der Revolutionstour käme noch dazu, dass er am Ende der Straße, an der wir begonnen haben, wohnen würde, so dass es auch sein Kiez sei, in dem wir uns bewegt hätten. Die Tour sei letztes Jahr entstanden, zum 100sten Jahrestag der Revolution. Er habe bei der Ausstellung Revolution 1918/19 – Schöneberg ringt um Demokratie im Museum Schöneberg mitgearbeitet und dafür Führungen entwickelt, die er weiterhin anbietet. Er bedauert, dass viele der Ereignisse vom letzten Jahr, die an die Revolution von 1918 erinnert haben, nur temporär waren und kaum etwas im Stadtraum geblieben ist. Die Frage der Erinnerungspolitik ist für ihn eine Frage, in die er sich mit Eifer verstricken kann: An wen oder was wird erinnert? Welche Geschichten bleiben unerzählt? Kommt man zu diesen Fragen, verändert sich der Ton und seine Stimme wird schneller. Hier merkt man, dass man es nicht nur mit einem Historiker zu tun hat, der mit großem Interesse historische Fakten und Zusammenhänge in Archiven erforscht, sondern auch eine dezidierte Meinung hat. An die Revolution beispielsweise würde seiner Meinung nach viel zu wenig erinnert werden, was in der DDR noch ganz anders war.

Seine Touren greifen unterschiedliche historische Themen auf, wobei es ihm weniger um Fakten und Ereignisse geht, als um sozialgeschichtliche Aspekte wie Armut oder den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit. Im Bezirk Mitte bietet er mehrere Touren zu unterschiedlichen Themen an: Eine zum jüdischen Leben im Scheunenviertel, eine Gaunertour durch Moabit, eine Geschichte zu Armut und Solidarität, die von der Ackerstraße bis zur Wiesenburg führt, und eine Sex in the City-Tour, in der er Spuren von Sex und Erotik in der Metropole Berlin folgt.

Die Winterpause hat er dazu genutzt, zur Umweltbewegung zu recherchieren. Das hat er genossen: Zeit in Archiven zu verbringen, Materialien auszusuchen und den neuen Spaziergang auszutüfteln.  

http://www.berliner-spurensuche.de/

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