Gastautor*in

Das Kultur Mitte Magazin widmet sich der öffentlichen Stadtkultur und allen Formaten der Gegenwartskunst. Wir informieren hier regelmäßig über aktuelle Ausstellungen und die Arbeit und Lage der freien Szene, berichten über unsere Kooperationspartner*innen sowie über Leute im Bezirk, die etwas auf die Beine stellen. In wöchentlichen Beiträgen werden sowohl zeithistorische Hintergründe beleuchtet als auch aktuelle Einblicke in die diverse und dynamische Stadtkultur von Berlin-Mitte gegeben. Wir stellen Netzwerke und Orte vor, in denen Neues ausprobiert wird und wo kulturelle Transformation stattfindet. Im Mittelpunkt von kurzen Essays und Gesprächen stehen stadträumliche und soziale Rahmenbedingungen von Kunst und Kultur sowie Arbeitsweisen und künstlerische Handschriften. Unsere Serien Was läuft … oder Stadt im Kopf wie auch regelmäßige Porträts, beispielsweise von Plätzen und Straßen, verdichten Themenschwerpunkte und profilieren das Magazin über die Jahre zu einem Archiv der Stadtkultur in Berlin-Mitte. Autorinnen: Ferial Nadja Karrasch, Marina Naprushkina, Monika Rinck, Dr. Anna-Lena Wenzel; Redaktion: Katja Kynast, Judith Laub und Dr. Ute Müller-Tischler.

Wann spricht ein Stein?

28.04.2020
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Karolin Meunier besucht die Textinstallationen "Goldes Wert" und "True Fables" von Monika Rinck und Haytham El-Wardany in der Klosterruine Berlin.

Die Ausstellung „The Better Alchemists. Contemporary Artists Respond to Leonhard Thurneysser“ in der Klosterruine Berlin mit Arbeiten von Monika Rinck und Haytham El-Wardany hat am 1. Februar 2020 eröffnet. Ihre Zugänglichkeit ist in den letzten Wochen weder eingeschränkt noch verändert worden und die Option, die kompletten Texte über einen QR-Code aufzurufen und online nachzulesen, war immer schon Teil des Konzepts der Kurator*innen Katja Kynast und Hauke Zießler. Denn der Ausstellungsraum in Berlin-Mitte ist von außen einsehbar: In dem früheren Kirchenschiff, ohne Dach, gerahmt von Mauerresten auf der einen Seite und einem Zaun auf der anderen, ist ein LED-Schriftband installiert, auf dem in weißer Leuchtschrift die Texte der beiden in Berlin lebenden Autor*innen erscheinen. Die in schneller Abfolge vorbeiziehenden Sätze lassen sich zunächst nicht eindeutig zuordnen, außer, dass es längere Passagen auf Deutsch und auf Englisch gibt. Da man jedoch ständig das Gefühl hat, beim Lesen zu langsam zu sein und einen wesentlichen Teil verpasst oder schon wieder vergessen zu haben, überlagern sich die verschiedenen Stimmen und verbinden sich mit der je eigenen Wahrnehmung des Ortes, der Geschichte des Ortes und den Themen der Gegenwart:

Kümmern sie sich JETZT um REISE- UND KRIEGSAPOTHEKE.
‚My friend,’ said rat, ‚why don’t you follow my advice? You’d find some relief and regain some of your health’

Beide Texte sind sicher unter dem Eindruck einer allgemeinen Krisenhaftigkeit und deren medialer Vermittlung entstanden. Und es wäre leicht, sie im Hinblick auf die aktuelle Situation zu lesen, in der Nachrichten von medizinischen (Halb-)Wahrheiten, dystopischen Zukunftsszenarien und verwaisten Innenstädten kursieren. Das würde allerdings die spezifischen historischen und politischen Referenzen sowie formalen Entscheidungen verdecken, die in ihren Beiträgen zur Ausstellungsreihe Unfinished Histories angelegt sind.

Installation am Abend, Foto: Katja Kynast

GOLDES WERT ist eine Montage vermeintlicher Werbebotschaften, medizinischer Ratschläge, mittelalterlicher Zaubersprüche und von diesen angetriebenen Wortspielen. Die Lyrikerin und Essayistin Monika Rinck nimmt hier Bezug auf die Rätselreime und diversen Berufe Leonhard Thurneyssers, der im 16. Jahrhundert in der damaligen Klosteranlage lebte. Er betrieb dort nicht nur eine Druckwerkstatt und einen botanischen Garten, sondern widmete sich zunehmend alchemistischen Praktiken. Was vielleicht als durchaus ernsthafte Erforschung der heilenden Wirkung von Pflanzen und Mineralien begann, wurde schnell zum Handel mit zweifelhaften Versprechen auf Heilung und Reichtum. Von heute aus gesehen sind Figuren wie Thurneysser Scharlatane und zugleich ist die Sehnsucht danach, wissenschaftlichen Methoden, wenn nicht magische, so doch immerhin das weite Feld alternativer Verfahren zur Seite stellen zu können, genauso aktuell wie die Frage nach Zugänglichkeit, Kommerzialisierung und Exklusivität von Gesundheit überhaupt.

In Rincks eigener Version von Rätselreimen vermischen sich mittelalterliche Zutaten mit zeitgenössischen Ritualen von Entertainment bis Bürokratie (Spezialisiert auf RSV: RICHTIG SCHWIERIGES VISUM). Denn damals wie heute kommt der Sprache eine besondere Rolle zu bei Vermittlung und Verkauf von Wissen. Auch magische Praktiken werden häufig von Worten begleitet, denen eine performative und damit verwandelnde Kraft zugeschrieben wird. Hier scheint der Sprache die Aura des Magischen allerdings eher ausgetrieben zu werden und stattdessen deren Potential zur Formelhaftigkeit ausgestellt –  um dann wiederum ganz eigene, ins Absurde kippende Bedeutungsschleifen zu drehen. Der Text ist zugleich ein Spiel mit dem Unverständnis, dem Unsinn, ein Rätselraten, das uns übersetzen und interpretieren lässt: der mehrsprachige Austausch zwischen Pflanzen, Tieren, Dingen und den Wörtern selbst als Garant der unkontrollierbaren Vervielfältigung?

Einblick von der Seite, Foto: Katja Kynast

Ich werde dann alsbald die Nomenklatur der Gewächse

ordnen und umordnen und wieder erneut ordnen und

beginne mit den Dolden, den Dornen, den Datteln.

Dann: Sprechende Hunde und sprechende Ochsen

Das Allsprachige Wörterbuch! Bewerben! Wie gut,

dass beim Turmbau alle Sprachen auseinanderflitzten

nach Gottes Gebot. Herrlichkeit! Holländisches Kind.

im Mutterbauch Französisch spricht! Unverständnis.

Unverständnis als Erfolgsmodell. Gold gegen Unterricht

Worauf die Passage auch anspielt, ist Thurneyssers Publikationspraxis mit eigener Druckerpresse, mit der er in mehreren Sprachen Texte setzen konnte und die auch arabische Schriftzeichen enthielt. Eine Funktion, die das LED-Schriftband der Ausstellung nicht reproduzieren konnte.

Haytham El-Wardanys Textausschnitt ist vor Ort nur in der englischen Übersetzung zu lesen, der gesamte Text auf der Website auch im arabischen Original. Die drei Erzählungen, unter dem Titel True Fables zusammengefasst, sind verschiedenen Orten und Jahren zugeordnet: Dessau 2019, Basra 759, Gaza 2035. Auch wenn nur eine davon tatsächlich sprechende Tiere auftreten lässt, vermitteln sich in allen gesellschaftliche Zustände, in denen ungewöhnliche Formen der Verständigung angewandt werden müssen, damit etwas gesagt und gehört werden kann. Im ersten Text, Dessau 2019, spricht ein Feuerzeug zu zwei Polizisten und einer Richterin, doch sie nutzen die Evidenz von dessen Aussage nicht, um ein Verbrechen aufzuklären. Sie versichern sich gegenseitig, nichts gehört zu haben und dass ein Gegenstand nicht sprechen kann. Schließlich übernimmt ein brennender Baum die Funktion des nicht-auslöschbaren Zeichens. 2019 ist das Verfahren zum gewaltsamen Tod von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle, erneut verhandelt, aber schließlich eingestellt worden und wurde bisher nicht wieder aufgenommen.

Ausgangspunkt für die von El-Wardany gewählte literarische Form ist seine Beschäftigung mit Kalila Wa Dimna, einer Fabel-Sammlung aus dem 8. Jahrhundert, die mittels ihrer Übersetzungen von Hindi in Farsi und später von Farsi ins Arabische überliefert wurde. Der zweite Teil von True Fables ist eine fiktionalisierte Begegnung zwischen einem Erzähler solcher Fabeln und einem nach Antworten suchenden Herrscher, die mit dem Todesurteil des Erzählers endet. Dem geht ein Dialog zwischen beiden voraus, in dem die Forderung nach Wahrheit durch den Herrschenden und das Wissen des Erzählers um die Unmöglichkeit einer direkten Ansprache in dieser Art von Machtgefügen, verhandelt werden. The wise man, wie er im Englischen genannt wird, ist im Arabischen A’jami, ein Fremder, jemand, der die Sprache nicht richtig sprechen kann. Er vermittelt – vergeblich – dass auch manche Tatsachen erst übersetzt werden müssen, um wahrgenommen zu werden, und sprechende Tiere eben darauf aufmerksam machen. Basra, 759 verweist auf den Lebensweg des persischen Gelehrten und Übersetzers Ibn Al-Mokafa’, der die Fabel-Sammlung von Farsi ins Arabische übertrug.

Obwohl literarischen Formen wie der Fabel im Allgemeinen eine Abstraktheit zugesprochen wird, die sie auf viele Situationen anwenden ließe, geht es hier nicht um Lehrstücke. Mit der konkreten geschichtlichen Verortung der drei Erzählungen über die Zwischentitel besteht El-Wardany auf den Bezug zu realen Ereignissen, in denen direkter Widerspruch zur Gefahr wird. Sie berichten von Situationen, in denen andere Zeichensysteme animiert werden, auch die der Tiere und Dinge. Doch im Sinne von Übertragungen, die gut erzählte Geschichten auslösen, passieren diese weiterhin beim Lesen der beiden Texte, die Rinck und El-Wardany in die Ruine gesetzt haben und die weiterhin lesbar sind, während die Shopping-Malls auf der anderen Seite der vierspurigen Straße auf unbestimmte Zeit geschlossen wurden.

But even when we know all there is to know about the countries where the languages we translate are spoken, their histories and all that’s ever been said and the best translation for it, we rarely have an idea how to actually say anything in any of those languages. They are just languages we receive information in, virtual languages, no longer spoken by any living persons, just codes for us to crack. This isn’t different to how we perceive of the outside world as a whole: We know it’s there but we have no idea how to live within it, so we accept it as a kind of virtual reality, inhabited not by real people but by their images animated on a screen. (Zitat aus El-Wardanys dritter Erzählung, Gaza, 2035)

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